Wenn Hipster ihren Omas die Trinknahrung wegschlürfen, dann …
Seit einigen Jahren versuchen diverse Hersteller ihr «neuartiges Essen aus der Flasche» als das gesunde Hipsterfood für den modernen Menschen zu positionieren, oftmals mit Schauspielerpromi-Support in der Werbung. Doch was ist dran am vermeintlichen Trend, den man schon seit Jahrzehnten aus der Geriatrie – also der Versorgung alter, gebrechlicher Menschen – kennt?
Kann diese flüssige Form von Instant-Food überhaupt gesund sein?
Als kurzfristige Notlösung für ein paar Tage ist es okay, aber langfristig ist Trinknahrung sicher keine freiwillige Option, die die Gesundheit nachhaltig fördert. Hinzu kommt, dass sowohl die Vorfreude als auch der intensive Genuss bei richtig gutem Essen komplett fehlt – und kulinarischer Genuss, die Freude beim Essen zur Lebenserhaltung, das ist ein essentieller Faktor für Gesundheit im Leben.
Welche Bedeutung hat der Nutri-Score auf den Flaschen?
Der Nutri-Score gaukelt den Menschen «gesund oder ungesund» vor. Doch das kann der Nutri-Score gar nicht. Das sagt auch das deutsche Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) klar und unmissverständlich. Etwas krass formuliert ist der Nutri-Score ein «Gesundblender», der vielen Ländern sauer aufstösst. Nach Italien rebelliert inzwischen auch Österreich. Die kulinarische Alpenallianz hat recht – daher wehrt sich auch die hiesige Bio-Branche gegen die wissenschaftlich nicht haltbare ungesunde Diskriminierung von Bio-Lebensmitteln. Kurzum: der Nutri-Score ist so überflüssig wie Trinknahrung über-flüssig ist.
Welche Vorteile bringt es für den Körper, wenn man lediglich Trinknahrung zu sich nimmt?
Keine. Es gibt auch keine wissenschaftlichen Belege für Vorteile für den Körper. Trinknahrung kann zwar schneller verdaut werden. Aber vielleicht bekommt man deshalb wieder schneller Hunger. Ein Vorteil ist das sicher nicht.
Und welche Nachteile hat es?
Wissenschaftliche Belege sowohl für Vorteile als auch für Nachteile fehlen. Vor allem gibt es keine langfristigen Studien nach wissenschaftlich belastbaren Kriterien. Über potentielle Nachteile kann daher nur spekuliert werden: bei kurzfristigem Konsum über ein paar Tage wird es wahrscheinlich keine Nachteile geben. Bei Dauerernährung könnte es zu Verdauungsproblemen, Essstörungen und Mangelernährung kommen. Denn Essen ist mehr als roboterhaftes Auffüllen von durchschnittlich errechneten Makronährstoffen und Vitaminen/Mineralstoffen.
Der individuelle Aspekt fehlt völlig. Auch enthalten Lebensmittel wesentlich mehr sekundäre Inhaltsstoffe in einer natürlichen Matrix, die man in einer Trinknahrung nicht nachbilden kann. Dazu hat unser Körper den Hunger und die Lust auf spezielle Lebensmittel und Mahlzeiten, also seine kulinarische Körperintelligenz. Ausserdem fehlt langfristig der Genuss beim Essen – ein gravierender Nachteil in puncto Lebensfreude. Auch der soziale Aspekt, das gemeinsame Essen, fehlt.
Welchen Unterschied macht es, ob die Flüssignahrung warm oder kalt ist?
Keinen, das ist Geschmackssache.
Woran erkenne ich Mangelernährung?
Wenn man sich dauernd schlapp, müde und antriebslos fühlt. Wem es dauernd schlecht geht, Haut, Haare und der gesamte Körper weder gesund aussehen noch sich anfühlen, man immer wieder krank wird – dann sollte man zu Arzt gehen und sich untersuchen lassen, denn es könnte an Mangelernährung liegen. In Deutschland und in der Schweiz ist Mangelernährung im allgemeinen nur bei (sehr) alten Menschen, die nicht mehr richtig essen können/wollen, ein klinisch relevantes Problem. Daher gibt es für diese Patientengruppe schon seit Jahrzehnten Trinknahrung, damit man sie wenigstens mit den Hauptnährstoffen ausreichend ernähren kann, um die wesentlichen Köperfunktionen zu gewährleisten. Das nennt man enterale Ernährung.
Diese «All-inclusive»-Senioren-Fütterungsfläschchen – zum Beispiel Fresubin oder Nutricomp – gibt es schon „ewig“. Sie sind rechtlich Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diät) zum Diätmanagement bei Mangelernährung für Patienten mit erhöhtem Energiebedarf mit der Möglichkeit zur oralen Nahrungsaufnahme. Also kurzum: die Hipster-Trinknahrung ist ein alter Hut aus der Geriatrie!
Wie wirkt sich der Verzicht auf feste Nahrung auf Verdauung und Stuhlgang aus?
Eine sehr gute Frage, die es unbedingt zu untersuchen gilt, vor allem als Dauerkost. Hier müssten die Hersteller Langzeitstudien im RCT-Design (randomisierte klinische Studien) durchführen, um diese Frage zu beantworten. Vermutlich wird es Verdauung und Stuhlgang schwächen, denn es gibt wesentlich weniger zu tun „da unten“. Auch die Frage nach den Zähnen, die nichts mehr zu kauen bekommen, stellt sich. Generell wird die Reaktion des Magen-Darm-Trakts sicher sehr individuell ausfallen – hinzu kommt die Frage nach der Dauer dieser Ernährungsform und ob ausschliesslich oder als Zusatzdrinks.
Wie steigt man beispielsweise nach zehn Tagen Flüssignahrung wieder um auf „Fest-Food“, also kaubares Essen?
Das ist sicher sehr individuell. Ich würde auf jeden Fall sehr sachte und achtsam umstellen, das heißt erst einmal kleine Mahlzeiten essen, auf die ich richtig Lust habe und die vor allem leicht verdaulich sind (also wenig Rohkost, Vollkorn und alles mit vielen festen faserigen Ballaststoffen). Dann schauen, in sich hineinfühlen, wie der Körper reagiert, und entsprechend dem Körpergefühl weiteressen, sodass man sich während und vor allem nach den Mahlzeiten gut fühlt und nicht an Blähungen. Krämpfen, Durchfall oder Verstopfung leidet.
Worauf muss ich sonst noch achten?
Ganz wichtig ist kontinuierliche, ehrlich-intuitive Selbstreflexion: welche Signale sendet mein Körper, was fühle ich und vor allem: wie fühle ich mich? Wie entwickelt sich mein Energielevel, wie reagiert meine Psyche, wie meine Verdauung – welche körperlichen Effekte bemerke ich? Wenn man sich bei einem solchen Zehn-Tage-Test rundum wohlfühlt, wunderbar – wenn nicht, sollte man sich überlegen, warum man gerade macht, was man da nicht nur tut, sondern sich auch antut.
Ist die Trinknahrung empfehlenswert, wenn ich …
… Körpergewicht verlieren will?
Klares Nein. Wer sein Körpergewicht nachhaltig reduzieren möchte, der braucht eine individuelle Ernährungs- und Lebensstilumstellung, die perfekt zu eigenen Persönlichkeit passt und die daher dauerhaft, idealerweise für immer, beibehalten wird. Nur so lässt sich das neu erreichte, erschlankte Wunschgewicht auch langfristig halten. Und darauf kommt es letztlich an. Denn Abnehmen an sich ist nicht so schwer, aber danach schlank bleiben, das ist die „hohe Kunst“. Und das funktioniert sicher nicht mit Trinknahrung.
… Körperfett abbauen will?
Gezielt nur Körperfett abbauen kann man nicht. Der Körper baut während der Gewichtsreduktionsphase immer Fett und leider auch Muskeln ab. Daher ist Krafttraining und Bewegung wichtig, um die Muskelmasse aktiv „am Leben“ zu halten, sodass der Abbau auf ein Minimum beschränkt wird. Idealerweise ist der Trainingsreiz so intensiv, dass die Muskeln auch in der Reduktionsphase gleich groß bleiben oder gar noch ein wenig wachsen. Trinknahrung hat hierauf keinerlei Einfluss.
… Muskeln aufbauen will?
Auch hier ein Nein. Mit Trinknahrung wird keine einzige Muskelfaser zum Wachsen und Aufbau angeregt. Denn essenziell ist Krafttraining – und zwar regelmässig, mit hohen Gewichten und wenigen Wiederholungen (max. 10–15). Daher empfehle ich jedem, der abnehmen möchte, sich ein paar Hanteln zu kaufen – damit lassen sich ganz einfach zu Hause die Muskeln trainieren. Besonders auf die Ernährung achten muss man hier auch nicht, wenn man normal und ausgewogen isst – denn unser hiesiger Ernährungsstil liefert dazu mehr als ausreichen Proteine (Eiweiss).
… gesund leben will?
Zu einem gesunden Leben gehört wesentlich mehr als Ernährung. Denn gesund oder ungesund ist immer nur der gesamte Lebensstil. Und Ernährung insgesamt ist nur ein Teil davon. Man muss hier grösser denken, und das über Jahr(zehnt)e hinweg. Die wesentlichen Elemente für Gesundheit sind etwa die sexuelle und soziale Zufriedenheit, viel Spass und Genuss, wenig Stress und vor allem: ein erfülltes Leben. Auch die genetischen Anlagen und die Lebensumwelt spielen eine entscheidende Rolle. Wer das Gefühl hat, seine Gesundheit verbessern zu müssen, kann die einzelnen Komponenten danach betrachten, was verbesserungswürdig ist. Das ist individuell verschieden und kann nicht pauschal beurteilt werden. Darüber hinaus existieren keinerlei wissenschaftliche Daten, dass Trinknahrung zur Gesundheit beiträgt.
…. wach und produktiv sein will?
Dazu liegen keinerlei wissenschaftliche Beweise vor. Also fachlich formuliert: es fehlt vollumfänglich an erforderlicher Kausalevidenz. Das gilt nicht nur für produktiv und wach, sondern auch für jegliche weitere Wirkungen, die den Trinknahrungen zugeschrieben werden.
Autor: Uwe Knop