Versorgungslücken im Bereich der psychischen Gesundheit schliessen
Das schweizerische Gesundheitssystem ist gut ausgebaut. Bei der psychischen Gesundheit gibt es aber Versorgungslücken, vor allem auf dem Land und bei Kindern und Jugendlichen. Der Bundesrat schlägt im Bereich der psychologischen Psychotherapie einen Systemwechsel vor, um diese Lücken zu schliessen.
Psychische Erkrankungen und Krisen sind häufig. Fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung leidet mindestens einmal im Leben an einer psychischen Krankheit. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass bis zu zwei Drittel der Personen mit einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung nicht behandelt werden. Gründe dafür sind unter anderem bestehende Lücken in der Versorgung.
Vor allem in der ambulanten Psychotherapie gibt es Zugangshürden, die zu Versorgungsengpässen führen. Wer heute einen Termin bei einem Facharzt oder einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie will, muss im Durchschnitt sieben Telefonanrufe tätigen, bis er oder sie einen solchen kriegt. Je nach Region bestehen Wartefristen von sechs oder mehr Monaten. Das hat fatale Folgen. Nicht rechtzeitig behandelte psychische Krankheiten führen zu Arbeitsausfällen, zu teuren stationären Aufenthalten in Kliniken, zu IV-Berentungen. Insgesamt verursachen sie der Schweizer Wirtschaft und den Sozialversicherungen jährlich Kosten in Milliardenhöhe.
Das wäre vermeidbar. Die bestehenden Versorgungslücken könnten von psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten geschlossen werden. Sie behandeln bereits heute selbständig Patientinnen und Patienten mit psychischen Störungen. Die meisten psychiatrischen Kliniken würden ohne psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten gar nicht funktionieren, weil es zu wenige Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie gibt. Auch im ambulanten Bereich behandeln psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten viele Patientinnen und Patienten. Allerdings müssen diese Patientinnen und Patienten die Kosten für die Behandlung meistens selbst bezahlen. Psychotherapien, die von psychologischen Psychotherapeut(inn)en durchgeführt werden, werden heute nämlich nur dann von der obligatorischen Krankenversicherung bezahlt, wenn sie unter Aufsicht eines Arztes oder einer Ärztin erfolgen (Delegationsmodell, siehe weiter unten).
Da es nicht genügend Ärztinnen und Ärzte gibt, die delegierend tätig sind, führt dies zu den erwähnten Versorgungslücken. Besonders prekär ist die Situation in ländlichen Regionen und wenn Kinder und Jugendliche betroffen sind.
Von der Delegation zur Anordnung
Der Bundesrat hat das Problem erkannt und schlägt deshalb vor, das Delegationsmodell durch ein Anordnungsmodell zu ersetzen. Dieses sieht vor, dass Ärztinnen und Ärzte eine Psychotherapie anordnen können, ähnlich wie bei der Physiotherapie. Der Patient kann die Therapie dann bei einem Psychotherapeuten seiner Wahl durchführen lassen, die Grundversicherung übernimmt die Kosten dafür. Damit könnten selbstständige Psychotherapeutinnen und -therapeuten nicht mehr nur Patientinnen und Patienten aufnehmen, die ihre Therapie selbst bezahlen oder sie über die Zusatzversicherung (mit)finanzieren lassen. Neu könnten sie auch Patientinnen und Patienten behandeln, deren Therapie von der Grundversicherung bezahlt wird. Damit erhöht sich das Angebot an von der Grundversicherung finanzierten ambulanten Therapieplätzen – die Versorgungslücken werden grösstenteils geschlossen.
Im Rahmen der Vernehmlassung zu diesem Vorschlag, die im Oktober 2019 endete, äusserten sich viele Akteure positiv, einzelne Stakeholder haben aber Vorbehalte. Namentlich die Krankenkassen befürchten eine übermässige Kostensteigerung durch die neue Regelung. Die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) hält diese Befürchtungen für unbegründet. Stattdessen bringt das neue Modell mehr Transparenz darüber, wo die Kosten entstehen. Es enthält zudem auch Massnahmen zur Eindämmung des Kostenwachstums. Vor allem aber beseitigt es die bestehenden Versorgungslücken und trägt so zur Verbesserung der psychischen Gesundheit der Schweizer Bevölkerung bei. Die FSP ist überzeugt, dass der Nutzen des Modellwechsels so unter dem Strich für die Gesellschaft viel grösser ist als die Kosten.
Delegation oder Anordnung
Das Delegationsmodell (heute): Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erbringen ihre Leistungen als Angestellte in einer Arztpraxis unter Aufsicht und in der Verantwortung des delegierenden Arztes, der die Leistung mit der Grundversicherung abrechnet und dem Psychotherapeuten einen Lohn auszahlt.
Das Anordnungsmodell (morgen)
Ärztinnen und Ärzte können eine Psychotherapie anordnen. Psychologische Psychotherapeuten erbringen die Leistung in der Folge selbständig und in eigener Verantwortung und rechnen die Leistungen direkt mit der Grundversicherung ab.
Fachleute mit verschiedenen Grundausbildungen
Psychologische Psychotherapeuten absolvieren ein fünfjähriges Psychologiestudium mit Masterabschluss und danach eine fünfjährige, eidge-nössisch anerkannte Psychotherapie-Weiterbildung. Nach Abschluss dieser Weiterbildung können sie selbständig Psychotherapien durchführen.
Ärztliche Psychotherapeuten absolvieren ein sechsjähriges Medizinstudium und danach eine fünfjährige Zusatzausbildung mit Abschluss als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach Abschluss dieser Weiterbildung können sie selbständig Psychotherapien durchführen. Im Gegensatz zu den psychologischen Psychotherapeuten können sie zusätzlich auch Medikamente verschreiben.
Philipp Thüler
Leiter Kommunikation und Marketing FSP