Der Genuss als Kunstform
« Essen ist ein Bedürfnis, Geniessen eine Kunst » behauptete der französische Schriftsteller und Aphoristiker François de La Rochefoucauld vor fast vierhundert Jahren.
Eine Lebensweisheit, die zum Motto meiner ganzen Familie wurde und mich zu einer begeisterten Feinschmeckerin machte. Viele meiner schönsten Erinnerungen sind mit Essen verbunden und mich überkommt jedes Mal ein grosses Glücksgefühl, wenn ich an diese Momente zurückdenke oder neue kulinarische Höhepunkte erlebe.
Doch mir scheint, dass heutzutage allzu oft die Idee des Genusses mit der eines verschwenderischen und dekadenten Verhaltens assoziiert wird, das zudem der Umwelt und Gesundheit schadet. Diese Denkweise ist gefährlich und falsch. Genuss heisst nicht Überfluss. Die Zeiten der Festbankette à la Trimalchio und Buddenbrooks, während denen man sich mit exotischen Speisen vollstopfte bis zum Umkippen, sind vorbei. Genuss ist eine Pause im hektischen und überwiegend digitalen Alltag, der die Wahrnehmung unseres Körpers und Geistes fördert (eine gute Alternative zu Yoga also für diejenigen, die da noch nicht ganz den Anschluss gefunden haben).
Aber wie kam es überhaupt zu dieser negativen Konnotation ? Vielleicht als verschiedenste Lobbys und Firmen das Gefühl zum Konzept machten, um eigene Interessen zu verfolgen. Das Ergebnis? Unsere Köpfe wurden so indoktriniert, dass wir gar nicht mehr auf das eigene Bauchgefühl hören. Plötzlich sind wir der festen Überzeugung, dass der Spinat-Smoothie hervorragend schmeckt und die veganen Würstchen sogar besser sind als die fleischigen. Plötzlich gibt es zum Znüni getrocknete Apfelscheiben, die die Verdauung ankurbeln sollen, anstatt ein Buttergipfeli, dessen tierische Fette angeblich Magensäure provozieren. Stolz wird im Büro beim «genüsslichen» Verspeisen eines Avocado-Salats erzählt, wie man nur noch zweimal pro Woche Fleisch isst. Genuss reimt nicht mehr mit persönlicher und innerer Genugtuung, sondern wird zum Aushängeschild eines moralisch und gesundheitlich korrekten und vertretbaren Essverhalten. Wo bleibt denn da bitte die Kunst?
Ein Beitrag von Carmela Crippa, die Spinat-Smoothies einfach nicht geniessen kann.