Guter Bauer, böse Industrie
«Essen und Trinken» hält nicht nur Leib und Seele beisammen, sondern sorgt auch für Emotionen, Besserwisserei und allerlei Theorien. Wöchentlich können wir, die Konsumenten, die neuesten Studien über gesundes Essen, gesunde Nahrung, gesunde Lebensmittel lesen. Das sorgt nicht etwa gar für Transparenz, sondern vor allem für Verunsicherung.
Wer sich nur an den Schlagzeilen orientiert, kann in Schrecken verfallen. «Die wollen uns alle vergiften!», so die Meinung verängstigter Konsumenten und Bürger. Wer genau, das wissen sie nicht – aber «die Industrie», in diesem Fall die Lebensmittelindustrie, ist immer ein dankbarer Sündenbock. Und «die Politik». Und das BAG. Dass Konsumenten kritisch hinterfragen, dass man ihnen nicht mehr jeden Bären aufbinden kann, das ist eine durchaus positive Entwicklung. Dank dieser Kritiker haben wir heute ein Nahrungsmittelangebot, das keine Wünsche offen lässt: ich kann Bio-, Freiland-, Hors-sol-, Treibhausprodukte einkaufen, inländische oder ausländische, regional, saisonal, ganz nach meinen Wünschen. Und dies beim Detailhändler, beim Grossisten, beim Discounter, im Hofladen, auf dem Markt. Dieses breite Angebot gilt auch für verarbeitete Produkte. Dank klarer Produkte- und Nährwertangaben kann sich heute jeder über seinen Einkauf informieren (daher ist ein Nutriscore auch unnötig) – oder auch nicht. Denn machen wir uns nichts vor: Essen ist für viele lediglich Nahrungsaufnahme, weder Genuss noch Philosophie noch Religion noch Dogma. Daran ändern auch die unzähligen Kochshows nur bedingt etwas. Doch das ständige, manchmal jahrzehntelange Fordern nach Qualität und Diversität einiger weniger haben wir heute als Resultat beim Posten vor Augen. Der Handel richtet sich nach den Kunden. Was nicht (mehr) gefragt wird, verschwindet, was gefragt wird, taucht (wieder) auf. Das ist gut so.
Warum werden wir, wenn es ums Essen geht, gerne emotional? Warum boomen in letzter Zeit Volksinitiativen, welche die Ernährung betreffen (und davon gib es stets mehr)? Vielleicht deshalb, weil wir Schweizer halt doch ein Volk von Bauern sind. Denn für die Landwirtschaft ist uns nichts zu teuer, wir subventionieren sie jedes Jahr mit erklecklichen Beträgen. Für viele Konsumenten, die sich kaum mit der Erzeugung von Nahrungsmitteln auseinandersetzen, steht der Landwirt für unsere Nahrungssicherheit, für eine qualitativ hohe Erstproduktion, für ehrliche, harte tägliche Arbeit auf Acker und Feld und unter Einhaltung aller Verordnungen und Gesetze. Vor dem geistigen Auge des romantischen Konsumenten gibt es keinen Pestizideinsatz, keine Missachtung des Tierwohls, keine grenzwertigen Arbeitsbedingungen von Erntehelfern. Diesem Bild gegenüber stehen die Verarbeiter, die Produzenten der zweiten Stufe und die Lebensmitteltechnologie. Gut und böse: wie einfach! Denn die Grenzen sind, das merkt man beim Einkaufen als Konsument sehr gut, schon längst verwischt. «Die Industrie» ist dazu übergegangen, verarbeiteten Nahrungsmitteln handwerkliches Know-how angedeihen zu lassen. Verarbeiter, ob Industrie- oder Mittel- und Kleinbetriebe, nehmen uns viel Arbeit ab, die wir sonst in der Küche verbringen müssten.
Ein kleiner Dank ist angebracht: Obwohl ich sehr gern koche, greife ich dankbar auf Halbfertigprodukte zurück: Nicht immer habe ich Zeit, einen Blätterteig selber herzustellen. Oder Hülsenfrüchte einzuweichen. Oder aus San-Marzano-Tomaten in der kurzen Sommerzeit Pelati einzumachen, die dann das ganze Jahr reichen müssen. Ganz zu schweigen vom erstklassigen Tiefühlgemüse, das auch in der Wintersaison verfügbar ist. Die Qualität, die wir uns wünschen, finden wir vor; und es liegt in unserer Verantwortung, diese Qualität dort zu beziehen, wo sie für uns und unsere Bedürfnisse angeboten wird. Kein «Entweder-Oder», sondern ein «Und». Das ist das Rezept für Wahlfreiheit der Konsumenten und für Qualität unserer Nahrungsmittel.
Babette Sigg
Konsumentenforum